Der sündige Stadtteil
St. Pauli und die Reeperbahn – zwei weltweit bekannte Begriffe, hinter denen etwas Anrüchiges und Zwielichtiges, Unmoral und Sex, Vergnügen jeder Art vermutet werden. Die Hamburger und erst recht die St. Paulianer wissen es besser, aber worauf beruht dieser Ruf? Eine Spurensuche von Ortwin Pelc.
Die Sonderrolle St. Paulis als Stadtteil und Vergnügungszentrum entstand aus seiner Lage auf 800 Metern zwischen Hamburg und Altona. Dieses Gebiet, der Hamburger Berg, gehörte seit dem Mittelalter zum Hamburger Landgebiet. Hier mussten sich Gewerbe ansiedeln, die in der Stadt nicht gern gesehen wurden oder zu viel Platz beanspruchten. Nachdem der Hamburger Berg 1830 den Status einer Vorstadt erhalten hatte, wurde er nach seiner Kirche „St. Pauli-Vorstadt“ genannt.
Vom Hamburger Berg bot sich eine herrliche Aussicht über die Elbe. Aufgrund des regen Ausflugverkehrs traten hier mobile Schausteller, Seiltänzer und Gaukler auf, seit 1795 wird der Spielbudenplatz erwähnt. Um das wachsende Durcheinander der ambulanten Vergnügungsbetriebe aus Karussells, Kaspertheatern sowie Buden und Zelten in eine gewisse Ordnung zu bringen, legte die Hamburger Stadtverwaltung im Jahr 1840 Bauplätze für feste Gebäude an. Finanzkräftige Schausteller konnten nun in diese dauerhaften Gebäude einziehen und ihre Programme wetterunabhängig anbieten
Auch ganz andere Branchen entdeckten, dass mit fremdartigen Dingen auf St. Pauli Geld verdient werden konnte. In der Lincolnstraße stellte der Fischhändler Gottfried Carl Hagenbeck 1848 Seehunde in Holzbottichen zur Schau. Sie erweckten so viel Interesse beim Publikum, dass er dieses Geschäft ausweitete und nun einen schwunghaften Handel mit lebenden Tieren begann. Sein Sohn Carl stieg in dieses Geschäft mit ein, erweiterte es um Tiere aus Übersee wie Elefanten, Giraffen und Löwen und verlegte es 1874 an den Neuen Pferdemarkt, wo er nun auch einen Tierpark betrieb und Völkerschauen veranstaltete. Als auch dort der Platz nicht mehr ausreichte, ließ Hagenbeck im preußischen Stellingen 1907 den heutigen Tierpark anlegen.
1855 eröffnete Ernst Renz seinen „Olympischen Circus“ und ließ am Circusweg einen festen Zirkusbau errichten, der für Zirkusbauten in ganz Europa als Vorbild diente. Bei der wachsenden Konkurrenz und den steigenden Ansprüchen des Publikums mussten stets neue Unterhaltungsangebote kreiert und der sich wandelnde Zeitgeschmack genau beobachtet werden. Im Jahr 1858 pachtete Carl Schultze das Tanzlokal ‚Joachimstal‘ und gründete dort ein Sommertheater, das später als ‚Carl-Schultze-Theater‘ eines der bekanntesten Operettenhäuser Hamburgs wurde. Diese rasche Entwicklung des Vergnügungsgewerbes auf St. Pauli wurde auch durch die Zunahme der Ordnungshüter deutlich. 1840 gab es die erste Polizeiwache, 1854 erhielt sie ein klassizistisches Gebäude, bis heute als Davidwache bekannt.
Nachdem 1865 die Gewerbefreiheit eingeführt worden waren, erlebte die Vorstadt einen weiteren Aufschwung. St. Pauli besaß damals noch eine enge Anbindung an den Hafenbetrieb, denn schon seit 1839 gab es am Elbufer die Landungsbrücken für Dampfschiffe und 1861 wurde hier ein Fischereihafen mit einem Großmarkt angelegt. Die Vorstadt wuchs parallel zu Hamburg und 1894 erhielt St. Pauli den Status eines Stadtteils mit allen Rechten. Das Unterhaltungsgewerbe profitierte von dieser rasanten Entwicklung Hamburgs und der Bedarf an Freizeitunterhaltung stieg. St. Pauli hatte weit über Hamburg hinaus einen Ruf. Die Vielfalt des Unterhaltungsangebots stieg ständig. So gab es neben Varietés auch Theater, in denen nicht nur Operetten, Volksstücke, Possen und plattdeutsche Komödien aufgeführt wurden.
Von der seriösen Unterhaltung zum unseriösen Vergnügen waren die Übergänge fließend. Als Besucher begab man sich in die Nähe illegaler Etablissements, riskierte einen Blick in unerlaubte Welten oder erlebte sogar etwas, was in der übrigen bürgerlichen Welt entrüstet abgelehnt wurde. Neben den Gastronomie- und Unterhaltungsbetrieben existierte auf St. Pauli auch immer die gewerbsmäßige Prostitution. Die Zahl der Bordellbetriebe wuchs mit der Zunahme des Vergnügungsbetriebs auf St. Pauli. Insbesondere an der Davidstraße waren die Prostituierten anzutreffen, in Kneipen, wo die Kontaktaufnahme bei Musik und Getränken erfolgte, oder in großen Tanzlokalen, in denen sie Kammern für ihre Dienste besaßen. Obwohl die Prostitution in Hamburg seit Beginn des 19. Jahrhunderts nicht legalisiert, aber geduldet wurde, mussten Prostituierte registriert sein, um nicht wegen gewerbsmäßiger Unzucht bestraft zu werden. Den Behörden ging es dabei vor allem um die Bekämpfung von Krankheiten, und man wusste, dass Verbote nur die heimliche, nicht kontrollierbare Prostitution fördern würden.
Die Herbertstraße auf St. Pauli wurde um 1900 zur besseren Kontrolle zu einer Wohnanlage mit Toren an beiden Enden umgewandelt, in der sich nun nur noch Bordelle befanden. Für den Besucher St. Paulis war die Prostitution immer sichtbar, dies war eine Besonderheit gegenüber anderen Städten und machte einen Teil der Anziehungskraft dieses Stadtteils aus.
Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte St. Pauli seinen hohen Bekanntheitsgrad erreicht. Das Lied „Auf der Reeperbahn nachts um halb eins“ wurde erstmals 1911 öffentlich gesungen und geriet zu einem solchen Erfolg, dass es seitdem als eine Art „Hymne“ von St. Pauli gilt. Der Stadtteil behielt seinen Ruf und seine Funktion als Vergnügungsviertel mit Höhen und Tiefen trotz aller wirtschaftlichen und politischen Widrigkeiten während des Ersten Weltkrieges, der Weimarer Republik und der NS-Zeit.
Nach 1945 machten nicht nur die Filme von Hans Albers St. Pauli weiter bekannt. Neben den großen Tanzpalästen und Kinos gab es schon in den 1950er Jahren bekannte Clubs, die Anfang der 1960er Jahre zur Geburtsstätte der Beatmusik wurden. Im Kaiserkeller, dem Top Ten und im Star Club feierten die Beatles nächtelang Erfolge, bevor ihre Weltkarriere begann. Daneben gab es zunehmend freizügigere Striptease-Bars, Sex-Shops verbreiteten sich, die Prostitution suchte neue Vermarktungswege durch Großbordelle. Eng damit verbunden war die organisierte Kriminalität, die sich ebenfalls stark wandelte, denn die einst bekannten Lokalgrößen verschwanden gegenüber unauffälliger agierenden internationalen Netzwerken von Kriminellen.
Das problematische Image des Stadtteils in den 1970er Jahren durch Verfall, Hausbesetzungen in der Hafenstraße und Kriminalität wandelte sich seit den 1980er Jahren allmählich durch erfolgreiche Musicals wie Cats und neue Theater wie das Schmidts. Preiswerte Mieten machten St. Pauli beliebt als Wohnquartier bei Einwandererfamilien, Studenten und Künstlern. Die Nähe zur Elbe und zur Innenstadt lockte aber auch Investoren: 2004 wurde das Bavaria-St.-Pauli-Brauereigebäude für Hochhausbauten abgerissen, die Tanzenden Bauten veränderten die traditionelle Silhouette des Spielbudenplatzes. Die Diskussionen um den Abriss der Esso-Häuser verdeutlichen das Protestpotential im Stadtteil. Dieses linke Image St. Paulis ist auch Teil des Selbstverständnisses des gleichnamigen Fußballvereins.
Theater, Musikclubs und das Reeperbahn-Festival, volle Touristenbusse und unzählige Themenführungen bis in die Nacht zeigen, dass der Stadtteil wieder ein ungebrochenes Interesse bei Hamburgern und Auswärtigen findet. Die Konzentration einer Vielfalt von Vergnügungen – auch anrüchiger und illegaler Art – auf einem relativ kleinen Raum scheint in der Welt einmalig zu sein und bewirkte, dass sich dieser Ruf St. Paulis bis ins 21. Jahrhundert erhalten hat.
Dieser Artikel stammt aus Ausgabe 02 / 2016 des Magazins Hamburg History Live der Historischen Museen Hamburg. In zwei Ausgaben pro Jahr werden spannende Kapitel aus der Geschichte Hamburgs und des Nordens erzählt, Hamburger Künstler vorgestellt, die historische Entwicklung der Hamburger Stadtteile präsentiert – und über das Programm der Historischen Museen Hamburg informiert.
Mehr unter www.shmh.de/history-live
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