Als mobile Kocheinheit Kitchen Guerilla kapern Koral und Onur Elci ungewöhnliche Orte. Zwischen Istanbul und Hamburg haben sie schon Baustellen und Segelschiffe in Gourmet-Paläste umgewidmet. Unsere Autorin Lena Frommeyer hat sie zwischen dampfenden Pötten besucht und die selbstgemachten Würstchen probiert.
Koral Elci massiert zärtlich eine Masse aus gekochten Kartoffeln, rohem Fisch, Öl und Gewürzen. Ganz langsam, mit einer Hand, die in einem schwarzen Gummihandschuh steckt. „Noch vier Stunden, wir schaffen das“ – ermutigende Worte für die Küchencrew und auch für ihn selbst. Etwas Mehl hängt in seinem Bart. Mit der freien Hand zieht er einen Notizzettel heran: „Felsenaustern“ steht dort geschrieben, „Beereneis“ und „Iberico“. Daneben hat er die Landesgrenzen Portugals skizziert. Koral Elci stellt die Schüssel zur Seite und lässt seinen Blick durch die alte Lagerhalle im Hamburger Stadtteil Ottensen schweifen. Hier werden heute Abend unerhörte Dinge geschehen: Zwei türkische Brüder nehmen die portugiesische Küche auseinander - und setzen sie auf norddeutsche Weise wieder zusammen.
Koral und Onur Elci rütteln seit 2009 kräftig an Essgewohnheiten und Küchen-Konventionen. Mit der mobilen Kocheinheit Kitchen Guerilla kapert das Brüderpaar gemeinsam mit Gastro-Freund Olaf Deharde fremde Restaurants, Segelschiffe, Baustellen, Kirchen oder andere ungewöhnliche Locations und veranstaltet kulinarische Themenabende von Hamburg bis Istanbul. Ihr Ziel ist dabei, Kochen als Ursprung jeder Kultur wieder in den Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens zu rücken. „Es ging uns auf dem Sack, dass in Deutschland jeder für sich isst“, erklärt Onur. „Bei uns gibt es eine lange Tafel, man sitzt zwischen Menschen, die man nicht kennt und viele Gänge werden bewusst zum Teilen in der Mitte serviert.“
So eine Session findet heute in ihrem Hauptquartier statt, dem Basecamp Hamburg. Die ehemalige Industrieanlage liegt im Südwesten Hamburgs, einen kleinen Fußmarsch vom Altonaer Bahnhof entfernt. Früher wurden in dieser Halle die Kulissen für das Altonaer Theater gebaut. Die Brüder haben das Dach abgedichtet, die mit Farbe vollgeklecksten Wände weiß gestrichen, bunte Lichterketten aufgehängt und im Zentrum ihre mobile Küche aufgebaut. Davor steht ein langer Tisch, hübsch gedeckt mit Blumen, Weingläsern und Servietten. 18 Leute finden heute an ihm Platz.
Einer von ihnen ist der bekannte Hamburger Kochbuchautor Stevan Paul, ein Freund der Kitchen Guerilla. An seinem Gaumen wird sich der kulinarische Erfolg des Abends entscheiden: Paul kehrte jüngst von einer Portugalreise zurück und hat den Geschmack von Bacalhau, Caldo verde und Pastéis de Nata quasi noch auf den Lippen. Von den Gastgebern hingegen war nur Onur in Portugal, einmal, und das ist lange her. Trotzdem wird es höchste Zeit, dass sich die Brüder die Landesküche vornehmen, schließlich lebt in Hamburg seit den 70er Jahren eine große portugiesische Community, der in Hafennähe ein eigenes Viertel gewidmet ist.
Koral nimmt die Sardinen aus. Man sieht der Ware an, wie frisch sie ist. „Die kommen aus dem Atlantik bei Galizien. Das ist Wildfang“, erklärt er. Onur ergänzt: „Wir arbeiten mit kleinen Händlern zusammen, die wir gut kennen. Unser Gemüse kommt von Hamburger Bauern. Wir haben auch einen eigenen Gemüsegarten auf dem Hof Eggers in Bergedorf gepachtet.“ Die Herkunft der Zutaten ist ihnen wichtig. Besonders, wenn es um Fleisch geht. Die Galloway-Kuh, die sie in ihrer Küche verarbeiten, haben sie selbst auf einer norddeutschen Weide erlegt und anschließend verarbeitet. Auch die Würstchen, die heute Abend serviert werden, stammen von dieser Kuh.
Auf dem mobilen Induktionsherd bereitet Onur ein Chutney vor. Kürbis- und Apfelstücke köcheln in Himbeeressig, Zitronensaft, Chili, Fenchel- und Koriander-Samen. Er streut Salz und Zucker über die Masse, ein köstlicher Duft steigt auf, säuerlich-süß mit einer scharfen Note. Neben den Brüdern schnippelt ihre Küchencrew das Gemüse für den Hauptgang. Alex, 28, kochte vorher im Café Paris und ist seit einem Monat Küchenchef der Kitchen Guerilla. Andi, 23, macht eine Ausbildung zum Veranstaltungskaufmann. „Mit den Schwerpunkten Kochen und Spülen“, scherzt Alex.
In den letzten Stunden vor dem Event wird es hektischer in der Küche. Sechs Gänge kreiert das Team: Felsenaustern, danach nordisch gepimpte Stockfischfrikadellen mit Kabeljau und Kürbis-Chutney, es folgen frittierte Sardinen in Bierteig mit Aioli sowie ein klassischer Eintopf mit Bohnen, Chorizo, Linsen und Venusmuscheln. Anschließend gibt es einen kleinen Bauernhof vom Grill: iberisches Schwein, Lamm und selbstgemachte Rinderwürste. Wer noch Platz im Magen findet, lässt sich die Dekonstruktion einer portugiesischen Nata schmecken: frittierter Blätterteig, Vanillecreme und Beereneis.
„Jungs, ich mache den Bierteig“, ruft Koral und zückt sein Smartphone. „750 Gramm Mehl, 600 Gramm Bier, zehn Eier, eine Prise Salz“, liest er vor. „Jetzt noch hochrechnen … Ach was, ich mache Augenmaß!“ Ihm geht alles nicht schnell genug. Außerdem hat der Großhändler die falsche Chorizo geliefert. Er schimpft auf Türkisch, seine Kommandos gibt er abwechselnd auf Deutsch und Spanisch. Koral ist mit 37 der ältere der beiden Brüder. Sie wuchsen in der Türkei auf, besuchten in Istanbul die Schule. Nach dem Abitur zog er zuerst nach Argentinien, entschied sich dann aber für ein Studium in Europa. Die Wahl fiel auf Hamburg.
„Ich habe mich total in Hamburg verknallt, bevor ich mich überhaupt das erste Mal in eine Frau verliebt habe“, sagt Koral. Seinem Bruder schwärmte er so lange von der kosmopolitischen und zugleich überschaubaren Hafenstadt vor, bis dieser schließlich auch nach Hambug zog. Koral studierte Produktdesign, Onur BWL. Sie lebten in Altona und jobbten nebenbei in der Gastronomie. Als in ihrer Nachbarschaft eine Eckkneipe zu verpachten war, übernahmen sie den Laden. Sieben Jahre lang standen sie gemeinsam hinter dem Tresen.
„Irgendwann hatte ich aber die Nase voll von der Nachtarbeit“, sagt Koral. Zu dieser Zeit experimentierte er oft mit Olaf Deharde in der heimischen Küche an neuen Rezepten. „In meiner Bude in der Friedensallee haben wir uns zu Kochsessions getroffen und Freunde zum Essen eingeladen.“ Diese Mischung aus kreativem Kochen und Heimeligkeit habe sich genau richtig angefühlt. Mit der Gründung der Kitchen Guerilla kam noch eine entscheidende Komponente hinzu: Die ungewöhnliche Ortswahl. Als unabhängige Guerilleros kochten sie plötzlich auf dem alten Fischkutter Catarina in der HafenCity oder in einer stillgelegten Spirituosen-Brennerei.
In gewisser Weise treten die Brüder damit in die Fußstapfen ihrer Eltern. „Die sind auch keine gelernten Köche, sondern Stadtplanerin und Volkswirt“, sagt Koral. Der Vater betrieb in Ankara ein Restaurant, in dem Mezze zu Live-Musik serviert wurde. Die Mutter setzte ein ähnliches Konzept in Istanbul um – aus Liebe zum guten Essen, wie Koral sagt. Aber es ist nicht nur der kulinarische Geist, den die Brüder von ihren Eltern vermittelt bekamen. „Sie waren revolutionäre Seelen, die schon mehrere Militärputsche und Gefangenschaften in der Türkei hinter sich hatten.“ Als Zeichen der Wertschätzung für den elterlichen Widerstandsgeist nannten Onur und Elci die eigene Unternehmung Kitchen Guerilla.
Auch Koral und Onur sind heute Familienväter. Außerdem betreiben sie die Focacceria Bonassola im hippen Stadtteil Ottensen und die Kantine von Facebook in der Neustadt. „Es gibt viel zu tun. Ich schlafe fünf bis sechs Stunden die Nacht und habe eine 70-Stunden-Arbeitswoche“, sagt Koral. „Meine Frau und unser Vater sind bei vielen Projekten ebenfalls mit eingebunden.“ So eine enge Familienbande hat Vor- und Nachteile: „Man kennt sich in- und auswendig und kann sich vertrauen. Aber man kann sich auch richtig auf die Nerven gehen. Vor allem wenn man - wie wir - eine Tendenz zur Provokation hat. Ich meine, hey, wir sind Brüder.“
Eine Stunde vor dem Essen kann Onur endlich einen Gang zurückschalten. „Wir sind gut in der Zeit. Trinken wir ein Pale Ale“, schlägt er vor und öffnet eine Flasche mit dem Griff seines Küchenmessers. Koral probiert gerade den Eintopf, als das Gesicht von Till Schweiger auf seinem Handydisplay aufleuchtet. Vor einer Woche hat der Schauspieler ein Restaurant in der Innenstadt eröffnet. Koral und Onur beraten ihn kulinarisch und helfen bei der Auswahl des Personals. Heute Abend braucht er ihre Hilfe: Zwei Servicekräfte sind ausgefallen. Koral organisiert spontan Ersatz.
Die Sardinen putzen, Schwänze dranlassen. Aus den weiteren Zutaten einen Teig herstellen. Die abgetrockneten Sardinen an der Hinterflosse in dem Teig tunken. Etwa 2 bis 3 Minuten je nach Größe in heißem Fett ausbacken.
Wichtig: Die Zutaten bei Raumtemperatur bearbeiten und keine kalten Eier verwenden. Eigelb, Senf und Zitronensaft gut verrühren. Das Öl zunächst tropfenweise und später in einem dünnen Strahl dazugeben und mit dem Pürierstab gut vermengen. Final eine Knoblauchzehe und Kapern dazugeben. Je nach Geschmack nachsalzen und ein bisschen Abrieb der Zitronenschale dazugeben.
Die ersten Gäste treffen ein. Koral öffnet die Austernschalen. Sein Kopf läuft vor Anstrengung rot an, die Fingerkuppen werden weiß. Für einen vegetarischen Gast beträufelt er Gurkenwürfel mit Teriyaki-Soße und Vodka, das Ergebnis legt er in eine Austernschale. Das ist zwar so, als wickelte man Tofu um einen Knochen, sieht aber schön aus. Koral wirbelt in der Küche, Onur setzt sich zu den Gästen, redet, umarmt, prostet mit dem Weinglas. Weinhändler Hendrik Thoma, der zweite Gastgeber des Abends, rezitiert bei Kerzenlicht aus der portugiesischen Geschichte. Er wird nur von den Brüdern unterbrochen, wenn sie den nächsten Gang ankündigen: „Jetzt gibt’s Südländer-Mayo!“, sagt Koral und bettet die Sardinen auf einem Kissen aus Aioli. Gegen Mitternacht sind die Bäuche der Gäste voll und die Weinflaschen leer. Es war wieder ein gelungener Küchenstreich.
Please note that this is an automatic translation.
For better information, you can always switch to the German or English version